Wertdenken vernichtet Leben

Im vorangehenden Beitrag ging es um die institutionelle Massenvernichtung von Leben. Die sozialen Spielregeln unserer Welt bringen jedes Jahr 18 Millionen Menschen den Tod durch Mangelernährung. Warum ist das so? Wagen wir einen Blick darauf, was wir bisher über das Menschsein zu wissen glaubten. Moralische Überheblichkeit, so meine zentrale These, führt uns an den Abgrund der Existenz unserer Spezies.

Der NS-Politiker Robert Ley veröffentlichte am 30. Januar 1940 in der Zeitschrift „Angriff“ einen Artikel, in dem er einen Gedanken formulierte, der »das Schicksal« der Menschheit nachhaltig prägte – und bis heute prägt[i].

»Es ist unser Schicksal, zu einer hochstehenden Rasse zu gehören. Eine tieferstehende Rasse braucht weniger Raum, weniger Kleider, weniger Essen und weniger Kultur als eine hochstehende Rasse.«

Noch 1957 schrieb William F. Buckley in der von ihm gegründeten Zeitung National Review: »Darf die weiße Gemeinschaft (…) Maßnahmen ergreifen, die notwendig sind, um sich politisch und kulturell zu behaupten? Die ernüchternde Antwort ist: Ja, die weiße Gemeinschaft darf das, weil sie einstweilen die fortgeschrittene Rasse ist.«[ii]

Es war der Glaube an die Überlegenheit einer »Rasse«, welcher Grundlage und Rechtfertigung für die deutschen Nationalsozialisten bildete. Die Nationalsozialisten propagierten das lebensunwerte Leben, viele Millionen Anhänger folgten ihnen darin, und sie glaubten, dass sie das Richtige tun. Sie rechtfertigten damit ein Handeln, was viele Menschen heute (und viele auch schon damals) als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnen. Dieser Glaube, dass die eine Sorte Mensch der anderen Sorte Mensch überlegen sei, war kein neuer, sondern er zieht sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte. [iii]

Wie sieht die Lebensrealität heute auf diesem unseren Planeten aus? Auf dieser Welt wird tagtäglich und ganz selbstverständlich unterschieden in lebenswertes und unwertes Leben. Diese Art von Wertdenken vernichtet Leben! Jedes Jahr sterben allein 18 Millionen Menschen durch Mangelernährung und Hunger. Ich habe erläutert, dass es sich nicht um Naturkatastrophen, sondern um menschengemachte Zustände handelt. Institutionelle Mechanismen reproduzieren das Elend des Hungers.

Offensichtlich scheint es legitim zu sein, dass Menschen unterschiedlich viel Anspruch auf Leben haben – auf Zugang zu Nahrung, Obdach und Gesundheitsversorgung, auf kulturelle und politische Teilhabe. Wie sonst erklären wir, dass einige Menschen in warmen Wohnungen mit elektrischem Licht, Kühlschrank und Fernsehsessel leben, während andere vor den Toren Europas ertrinken? Haben die einen mehr Anspruch darauf und die anderen weniger? Womit ließe sich das rechtfertigen?

Warum muss man etwas bekämpfen, was aus der sogenannten natürlichen Ordnung der Dinge herausfällt?

Einige Menschen haben das Pech des falschen Geburtsortes, denn der Wert eines Menschen wird mit einem Dokument codiert: dem Pass. Das ist die real-existierende institutionelle Praxis. Das ist die Ordnung der Dinge, wie wir sie kennen. Die perfide Bezeichnung »Wohlstandsflüchtling« oder »Wirtschaftsflüchtling« bringt es zum Ausdruck. Gemeint ist: Ich habe Anspruch auf eine warme Wohnung, üppige Nahrung, Gesundheitsversorgung und alle zwei Jahre ein neues Smartphone. Aber du nicht! Der Ausdruck »Wirtschaftsflüchtling« meint: »Belästige mich nicht mit deiner Armut! Lass mich hier ungestört meinen Wohlstand genießen!«

Wer darf über die Grenze? Wer darf teilhaben? Nach welchen Maßgaben entscheiden wir darüber? Bild: Erich Westendarp  / pixelio.de

Wer darf über die Grenze? Wer darf teilhaben? Nach welchen Maßgaben entscheiden wir darüber?
Bild: Erich Westendarp / pixelio.de

Das menschliche Drama entfaltet sich an dieser Art des Wertdenkens. Es ist der Glaube, dass manche Menschen besser sind als andere. Dies dient uns als Rechtfertigung mehr für sich selber und die eigene Gruppe (Familie, Nation etc.) zu beanspruchen und weniger oder gar nichts für die jeweils anderen zu lassen[iv]. Ich nenne diese Art des Wertdenkens moralische Überheblichkeit.

Diese Denkweise, die lebenswertes und unwertes Leben unterscheidet, hat die Menschheit an den Abgrund ihrer Existenz gebracht. Die Spezies Mensch wird sich selber vernichten, wenn sie nicht die Illusion der Überlegenheit aufgibt. Kein Mensch ist besser als ein anderer. So etwas wie einen schlechten Menschen gibt es nicht! Kein Geschlecht, kein Volk, keine Nation, keine Ethnie ist besser als eine andere.

Moralische Überheblichkeit, also der Glaube an das eigene wesensmäßige Bessersein, ist einfach nur ein Bewertungsschema von vielen möglichen. Es liegt in unserer kollektiven Verantwortung zu entscheiden, ob dieses Bewertungsschema dienlich oder hinderlich ist.

Das Leiden an Mangelernährung ist ein von Menschen hervorgebrachter Zustand, der nur sehr wenig mit einer grundsätzlichen Knappheit an Ressourcen zu tun hat. Die Mechanismen, die das zu Stande bringen, folgen bestimmten geregelten Ordnungen. Diese Regelordnungen sind soziale Errichtungen und ich bezeichne sie als Institutionen. Daher spreche ich von einer institutionalisierten Massenvernichtung von Leben. Hinter diesen Institutionen stehen Rechtfertigungen. Diese Rechtfertigungen erwecken die Institutionen zu Leben. Erst dadurch werden sie von den Menschen getragen und ausgeführt und so immer wieder reproduziert. Hinter den Institutionen der Massenvernichtung steht der Glaube an die Ungleichwertigkeit von Menschen.

Auch die irregeleitete Wertentscheidung beruht auf einer vermeintlichen inneren Einsicht in eine vermeintliche Struktur der Welt.
Harald Walach

Dieser Glaube ist nicht immer offensichtlich, denn sehr viele öffentliche Diskurse betonen die Menschenrechte und die Würde des Menschen[v]. Die soziale und insbesondere die politische Praxis sieht jedoch oft ganz anders aus.

»Lasst Theorien sterben nicht Menschen!«, mahnte der Philosoph Karl Popper. Wir haben Irr-tümer errichtet, Ungetüme konstruiert aus Illusionen, die Überlegenheit behaupten und als Rechtfertigung dafür dienen, dass wir uns als Spezies gegenseitig umbringen, ausbeuten, übervorteilen und betrügen. Lasst uns diese Irrtümer einreißen! Bestimmte Vorstellung über die Beschaffenheit der Welt, und was es bedeutet, ein Mensch zu sein, sind uns nicht dienlich.[vi]

Daraus folgt keineswegs ein Verzicht auf jegliche Unterscheidung und auch kein Verzicht auf Werte, sondern im Gegenteil eine wertschätzende Anerkennung von vielseitiger Verschiedenheit. Es bedeutet sehr wohl sehr genau zu überlegen, welche Art zu denken, zu reflektieren und zu handeln, ist uns dienlich. Das bedeutet sehr genau zu überlegen, worauf sind wir eigentlich aus. Was wollen wir anfangen mit diesen paar Jahrzehnten auf einem kleinen Planeten am Rande unserer Galaxis?

Wenn wir ein neues Level von Bewusstheit, von friedlicher, lebendiger, erfüllter und glücklicher Co-Existenz und Co-Evolution anstreben, dann wäre es wohl dienlich einige bisher gepflegte Denk- und Handlungsweisen aufzugeben und durch andere zu ersetzen.

Die Vorstellung von Überlegenheit könnte die letzte Illusion über den Menschen sein, die wir je hatten. Diese Vorstellung dient uns als Rechtfertigung für unsere gegenseitige Vernichtung einschließlich des Ruins unserer ökologischen Lebensgrundlage.

 

[i] Schulz, Ulrich, „Ley, Robert“, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 424-425 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118728016.html
Die Anklage der Nürnberger Prozesse beschuldigt Robert Ley: »Diese Einstellung und Richtlinie hat ihren konkreten Ausdruck darin gefunden, daß die Hitler-Verschwörer die von ihnen besetzten Gebiete der rücksichtslosesten und in ihren verschiedenen Methoden mannigfachsten Plünderung unterworfen haben, die die schamlosesten Verwüstungen gezeitigt haben.«
Aus der Anklageschrift der Nürnberger Prozesse, Hauptverhandlung, Dreiundsechzigster Tag. Mittwoch, 20. Februar 1946. (http://www.zeno.org/nid/20002759373)

[ii] Daniel Haufler: Systematische Diskriminierung. Kommentar in der Berliner Zeitung vom 19.8.2014, S. 4.

[iii] Eine eindrucksvolle literarische Darstellung findet sich beispielsweise bei Mario Vargas Llosa (2012): Der Traum des Kelten. Roman. Suhrkamp.

[iv] Wie die „Rasse“-Diskurse dazu dienen, (weiße) Privilegien zu etablieren und aufrecht zu erhalten, wird in einem Beitrag des Blogs No West Versus Rest geschildert: Race-making an the Nation State

[v] Das Zentrum für politische Schönheit schreibt dazu: »Nach dem Ende aller „-ismen“ im 20. Jahrhundert, wie Ralf Fücks jüngst meinte, waren die Menschenrechte „die letzte verbliebene Utopie“ (Fücks 2011). Das schlichte wie geniale Anliegen bestand darin, den Wert des Menschen politisch zu verankern und zu garantieren. Diese große Idee wird in den Menschenrechtschartas der Jahre 1776, 1789 und 1948 spürbar. Dennoch muss man zugeben, dass dieser letzte Traum einer besseren Politik gegenwärtig keine sonderliche Zugkraft besitzt: die Sorge um den Schutz von Menschen bewegt die deutsche Politik — wie Öffentlichkeit– nicht in dem Maße, wie es etwa die Sorge um den Staatshaushalt, die Steuereinnahmen oder Doktorarbeiten von Regierungsmitgliedern tun. Der Wille zur Realisierung des Traumes ist geschwunden. Wie ist das möglich, dass eine der größten Ideen der Menschheit in Deutschland derart blutleer, leidenschaftslos, langweilig und uninteressant geworden ist?« Aggressiver Humanismus. Von der Unfähigkeit der Demokratie, große Menschenrechtler hervorzubringen.

[vi] Wie leicht wir bereit sind, uns über einen anderen Menschen zu erheben, zeigt eindrucksvoll die Dokumentation eines Antirassismus-Workshops. ZDFneo: Der Rassist in uns. www.youtube.com

5 Kommentare zu “Wertdenken vernichtet Leben

  1. Boar, Respekt für dieses Gedanken! Und Respekt für die Art und Weise, wie Du sie zu Papier gebracht hast!

    Interessant finde ich bei der gesamten Fragestellung, warum der Mensch es überhaupt nötig zu haben scheint, sich als überlegen zu fühlen. Sei es Mitmenschen mit anderem Hintergrund gegenüber. Sei es anderen Arten gegenüber. Was ist die tiefsitzende Motivation die tiefsitzende Angst, das tiefsitzende Bedürfnis dahinter? Und warum tut der Mensch sich so schwer, sich dessen bewusst zu werden?

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    • Vielen Dank! Das ist genau die Frage, die mich auch umtreibt, und der ich weiter nachgehen will. Der Drang nach Überlegenheit ist, glaube ich, sehr tief verankert. Ich denke, es kann wichtig sein das besser zu verstehen. Sich das bewusst zu machen, heißt wirklich Verantwortung für sich und sein Leben zu übernehmen.

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      • „Wie sieht die Lebensrealität heute auf diesem unseren Planeten aus? Auf dieser Welt wird tagtäglich und ganz selbstverständlich unterschieden in lebenswertes und unwertes Leben. Diese Art von Wertdenken vernichtet Leben! Jedes Jahr sterben allein 18 Millionen Menschen durch Mangelernährung und Hunger. Ich habe erläutert, dass es sich nicht um Naturkatastrophen, sondern um menschengemachte Zustände handelt. Institutionelle Mechanismen reproduzieren das Elend des Hungers.“ Die Verhungertnden gibt es, da das Bedürfniss des Essens und Trinkens nicht profitabel ist. Die Armen haben kein Tauschmittel. Es ist die Härte des Kapitalismus, sich nur um die Profitrate zu kümmern. Dann gibt es noch Menschen, die glauben, das diese Menschen zuviel seien. Das zeigt den Stellenwert, den menschliches Leben hat.

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  2. Wir alle sind offen für Illusionen und es ist kein einfacher Akt des Willens, diese als solche zu erkennen. Die Umstände, unter denen man aufgewachsen ist, als gottgegeben und verdient anzusehen. Wer kann schon verkraften, dass er riesiges Glück hatte und andere, die ein genauso großes Recht hätten, einfach nur am falschen Ende des Kontinents geboren sind? Wer möchte dann zugestehen, dass man selbst auf die Bequemlichkeiten seines Lebens nicht mehr Recht als andere hat, dass man eigentlich, wollte man fair sein, mit deutlich weniger zurechtkommen müsste? Dann lieber sich selbst als höherwertig darstellen und die anderen abwerten.
    Ich glaube, dass Rassismus aus Engstirnigkeit und mangelndem Reflektionsvermögen resultiert. Verallgemeinernde Urteile sollten stets hinterfragt werden.

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    • Vielen Dank für deinen Kommentar, Daniela. Das ist, glaube ich, in der Tat ein wesentlicher Mechanismus, der aber, so vermute ich, in einem Mangelempfinden, in einer Bedürftigkeit begründet ist, also selber Ausdruck eines Minderwertigkeitgefühls.
      Der Weg daraus führt meines Erachtens nicht über Schuld und Selbstverurteilung, sondern über Dankbarkeit. Dankbarkeit für dieses Geschenk des Friedens und der materiellen Fülle, für das Geschenk des Lebens mit allem, was dazu gehört. Wenn ich diese Dankbarkeit empfinde und entwickle, dann entsteht innerer und äußerer Frieden, dann ist Abwertung nicht mehr Not-wendend.

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